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"Nie im Leben!", sagte der kleine Drache entschieden. "Nie im Leben und nicht für hundert goldhaarige Prinzessinnen!"
Und er stampfte mit seinem kleinen, dicken Drachenfuß so doll auf, dass lauter Funken aus seinen Nüstern sprühten. "Nee! Feuer, Qualm und Schuppendreck! Nie und niemals mach ich das!"
In die Drachenschule gehen alle Drachenkinder, um das zu lernen, was natürlich jeder Drache können muss: das vorschriftsmäßige Rauben von Prinzessinnen nämlich.
Drachen müssen Prinzessinnen rauben. Und Prinzen müssen die Prinzessinnen wieder von den Drachen befreien. Dann können Prinz und Prinzessin glücklich heiraten und hundert Prinzenkinder bekommen. So war es schon immer und so wird es immer sein.
"Nee!", schrie der kleine Drache noch mal. "Nee und nee und nee, das mach ich nicht!"
Der kleine Drache war wirklich mucksch. Ja, richtig sauer war er! Das konnte man allerdings verstehen.
Morgen war der große Tag, an dem die Drachenkinder endlich das erste Mal selbstständig eine Prinzessin rauben sollten. Bisher hatte ihnen das immer der große Drachenlehrer vorgemacht.
So eine Prinzessinnenrauberei ist keine leichte Sache. Oh nein! Wenn man da nicht aufpasst als Drache, dann kann das leicht eine äußerst blutige und schmerzhafte Angelegenheit werden! Das hatte der kleine Drache oft genug mit eigenen Augen gesehen.
"Feuer, Qualm und Schuppendreck!", schnaubte der kleine Drache böse. "Nee, das mach ich nicht!"
Er leckte sich mit seiner langen Zunge über seine golden schimmernde Vorderpfote, so lange, bis sie nicht mehr wehtat.
Das tat sie nämlich bis jetzt noch. Und zwar ganz schön doll! Das lag daran, dass der große Drachenlehrer den kleinen Drachen eben in der Schulstunde dazu ausgewählt hatte, das Rauben einer Prinzessin vorne vor der Klasse einmal vorzuspielen. Und eines der Drachenmädchen hatte die Prinzessin sein dürfen.
Als Prinzessin durfte man gemütlich in einer Kutsche sitzen und einfach ab und zu lieblich "Hiiilfe! Hiiilfe!" rufen. Und das kann ja wohl jeder!
Der kleine Drache aber, der hatte den Raubdrachen spielen müssen. Den Drachen also, der auf die Kutsche der Prinzessin zufliegt und sie in seine Krallen nimmt, um mit ihr auf und davon ins Drachendorf zu fliegen.
Klar hatte der kleine Drache nur so zu tun brauchen, als würde er die Drachen-mädchen-Prinzessin rauben. Aber trotzdem lauerten dabei einige Gefahren. Der große Drachenlehrer hatte nämlich die angreifenden Ritter gespielt ... Gespielt, ja, haha, von wegen! Wenn der Drachenlehrer die Ritter tatsächlich nur gespielt hätte, dann wäre der kleine Drache jetzt vielleicht auch nicht so mucksch gewesen! Aber der große Drachenlehrer war mit einem echten Schwert, wild in der Luft herumfuchtelnd, auf den kleinen Drachen und das Drachenmädchen zugestürmt.
Und ehe der kleine Drache noch Schuppendreck hätte sagen können, hatte er schon einen fiesen beißenden Hieb abbekommen. Autsch!
"Schwarzes Drachenblut und grüne Drachenbrut! Hohoho!", hatte der große Drachenlehrer gelacht. "Aufgepasst und mitgedacht!"
Was heißen sollte, dass der kleine Drache dem Schwert schneller hätte ausweichen müssen.
Ja, der große Drachenlehrer, der kannte keine Zimperlichkeit!
Doch als der Drachenlehrer gesehen hatte, dass dem kleinen Drachen vor Schmerz und Schreck tatsächlich eine dicke Drachenträne die Wange hinunterkollerte, wurde er etwas sanfter. "Ist ja gut, ist ja gut! Du musst die Ritter eben genau im Auge behalten! Verstehst du?"
Ob der kleine Drache verstand? Na, er war ja nicht doof. Natürlich verstand er, dass er die Ritter beobachten musste, während er die Prinzessin raubte. Aber es ist nicht so einfach, eine strampelnde Prinzessin vernünftig und sicher in die Krallen zu bekommen, sie nicht gleich wieder fallen zu lassen und dabei gleichzeitig die in der Ferne anreitenden Ritter genauestens im Blick zu haben. Ja, ehrlich, richtig schwer ist das!
Aber die restliche Klasse hatte laut gelacht, weil das Gesicht des kleinen Drachen zu verdattert und komisch ausgesehen hatte. Und weil sie die dicke Drachenträne natürlich nicht gesehen hatten.
Pah, dachte der kleine Drache hoch oben auf der Akazie, pah, ich komme einfach nie wieder hier herunter! Sollen die doch so viele Prinzessinnen rauben, wie sie wollen! Ohne mich!
Er kuschelte sich in der Baumkrone zurecht, leckte sich noch einmal seine arme Vorderpfote.
DRRRRRRR!
Das war die Schulglocke, die zur nächsten Stunde läutete.
"ROTE FEUERGLUT UND SCHWARZES DRACHENBLUT!", fluchte der große Drachenlehrer, der auf seinem letzten Rundgang über den Schulhof den kleinen Drachen hoch oben im Akazienbaum entdeckt hatte. "Was machst du da oben?"
Der kleine Drache seufzte. Sich gegen den großen Drachenlehrer aufzulehnen, wagte er nämlich nicht. Also glitt er langsam mit weit geöffneten Flügeln vom Baum herunter.
"Tu nicht so, als hätte ich dich gerade eben zu Leberwurststreuseln zerhackt!", brummte der alte Drachenlehrer mürrisch, als der kleine Drache neben ihm auf die Erde plumpste. "Mir ist das Schwert nur ein winziges bisschen aus der Hand gerutscht. So was kann doch wohl jedem mal passieren!"
Und wer den Drachenlehrer kannte, der wusste, dass man das getrost als Entschuldigung werten konnte. Deshalb stapfte der kleine Drache, zwar immer noch grummelig, ansonsten aber brav, hinter dem großen Drachenlehrer her in den Klassenraum der Drachenschule. Aber mitmachen, mitmachen bei dieser doofen Rauberei, das würde er trotzdem nicht! Nee, nee und nee!


Angsthase, Drachennase!
Mehr als zwanzig Drachenkinder in allen Farben des Regenbogens hockten in dem kleinen Klassenraum und lauschten den Erklärungen des großen Drachenlehrers. Na ja, also fast alle jedenfalls.
Ein kleines Mädchen mit vorwitzigen feuerroten Sommerschuppen auf ihrem grasgrünen Körper flüsterte ihrer hellblau schimmernden Freundin etwas in die kleinen Drachenohren. Dabei kicherten die beiden hemmungslos. Zwei gelbrote Feuerdrachenjungen spielten in einer Ecke Drachendomino. Doch den scharfen Augen des großen Drachenlehrers entging das natürlich nicht.
"Rote Feuerglut und grüne Drachenbrut!", schimpfte der Drachenlehrer jetzt. "Werdet ihr wohl aufpassen! Das Prinzessinnenrauben ist schließlich kein Leberwurstkuchenbacken! Wenn dabei etwas schiefgeht, dann seid ihr diejenigen, die dafür bezahlen müssen!"
Der kleine Drache seufzte tief und dachte an seine Pfote.
"Feuer, Qualm und Schuppendreck!", schnaubte der kleine Drache. "Das mach ich nicht mit!"
Oho! Aber da hättet ihr die Augen des großen Drachenlehrers sehen sollen! Im Nu verwandelten sie sich in drohende, funkelnde Schlitze.
"Du schon wieder? Du willst schon wieder nicht mitmachen?", fragte er in scharfem Ton.
Weißer, warnender Rauch stieg aus den Nüstern des Drachenlehrers auf.

 

ab 8 Jahren

  • ISBN-10: 3-570-13414-8
  • ISBN-13: 9783570134146
  • Einband: gebunden, Illustrationen von Tina Schulte. 20 cm
  • Seitenzahl: 111
  • Gewicht: 257 g

Dagmar H. Mueller, Das geheime Drachenbuch für Fortgeschrittene

Artikelnummer: 9783570134146
CHF 9.50Preis
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